Donnerstag, 9. April 2015

Von leichter und schwerer Kindheit oder einfach nur „ums Quadrat“

Kennt ihr das auch? Wenn man im Supermarkt an der Kasse steht und die Kassiererin Gnaste hat? Also so richtig Gnaste. „LEGEN Sie die Flaschen bitte auf das Band!!!“ – „Kassenbon??!!!“  Hier nicht mehr anstellen!!!“


Oder die Arzthelferin: „heute ist aber gaaanz schlecht. Wir sind total überfüllt, der DOOOKTOOORRR hat erst in vier Monaten wieder was frei“ (da wird meine Grippe im Zweifel weg sein oder ich gleich mit….)
Ja, und dann der Ton dabei. Und die Geischtsausdrücke. Die Leute haben einfach Gnaste. Manche sagen „schlecht geschissen“.
Ich nenne es Gnaste. Das Wort ist einfach wie gemacht dafür und ich kann überhaupt nicht begreifen, wieso das vor mir noch keiner erfunden hat. Sie haben alle Gnaste. Warum nur? Und was kann ich dazu? Ich möchte diese Gnastköppe dann am liebsten fragen: Warum sind Sie so? Haben Sie schlechten Sex? Oder gar keinen? Oder hatten sie eine schwere Kindheit?
ABER: kannste ja nicht bringen. Nachher stimmt’s.


Also frage ich nicht, sondern freue mich einfach nur, dass ich keine Gnaste hab. Man ziehe gern den entsprechenden Rückschluss. 


Meine Kindheit war zum Beispiel echt geil. Jedenfalls meistens. Ich meine, es war anders als heute, ganz anders. Und wir hatten auch nicht besonders viel Kohle. Aber wir hatten Freunde. Also ich meine so richtige Freunde, welche, mit denen man reden kann. Die man anfassen kann. Nicht nur auf dem Bildschirm, sondern IN ECHT. Und wir hatten Phantasie. In der Glotze gab es fünf Sender. Die Fernbedienung, die mit einer Kabelschnur mit der Glotze verbunden war, hatte fünf Knöpfe. Vier graue und einen roten. Der rote war die Ostzone. Wenn meine Freundin und ich fernsehen durften, rannten wir wie die hammerkranken an das rechte Ende des Sofas und brüllten „ich sitz am Schalter“….
Das war cool…..Wir haben wie verrückt gezappt. Meistens saßen wir aber gar nicht vor der Glotze, sondern waren draußen im Grünen. Den Oberbegriff „Draußen im Grünen“ kennt man heute ja nur noch aus Quizduell auf dem Smartphone.


Wir hatten auch das noch in Echt, mit richtigen Tieren und Wiesen und Bäumen und Laub und so. Voll krass. Die Wiese z.B.: Das war UNSERE Wiese. Diese Wiese hieß „ums Quadrat“. So hieß die eben, weil man da immer ums Quadrat lief, wenn man drumrumlief. Die Weise war nicht quadratisch, sondern rechteckig, aber sie hieß eben trotzdem so.
Es gab auch einen Tierarzt. Das kleine Kapellenhäuschen im Kurpark in Bad Nenndorf, zu dem wir mit unseren Stofftieren gingen – es war der Tierarzt unseres Vertrauens.
Beim Tierarzt habe ich später meine ersten Kifferfahrungen gemacht und wild über das Geländer gekotzt.


Bei „ums Quadrat“ führten wir auch Theaterstücke auf. Im Kurpark spielten wir Moorleichen. Nicht Moorhühner am  PC, sondern Moorleichen, das ist um einiges cooler, weil da richtige Leute kommen und sich mit etwas Glück sogar richtig erschrecken! Bei uns wurde aber keiner erschossen. Wir deckten uns nur mit Laub zu und wenn Passanten kamen, mussten diese 30,00 Pfennig bezahlen, dann durften sie mal eine Moorleiche stöhnen hören. Wir lagen unterm Laub und stöhnten ein bisschenh herümlich. Es war ein bisschen wie im Videoclip Thriller von Jacko. Die meisten Leute fanden das sehr kreativ, sie haben alle bezahlt. (War ja bei Jacko dann später auch so). Bei „ ums Quadrat“ machten wir das ganz große Kino, wir verkleideten uns und spielten Theater. Ich war sicher, dass irgendwann jemand vorbei kommt und mich entdeckt. So gerecht musste die Welt einfach sein. Ich konnte so gut schauspielern. Ich war so kreativ. Aber ich musste auch immer das Geld kassieren. War ja auch normal. Ich war schließlich die jüngste. Und ich wollte ja dazu gehören, also musste ich mein Engagement regelmäßig mit Mutproben unter Beweis stellen. Ich musste zu den Omas und Opas, die auf den Bänken saßen, gehen und sagen: Sie können gern hier sitzen bleiben. Aber hier wird jetzt ein Theaterstück aufgeführt. Das kostet 50,00 Pfennig. War doch echt günstig, ich mein, was kostet heute ein Theaterbesuch?  Es war irre. Unsere Eltern brachten uns in keine KiTa, wir lungerten einfach bei“ ums Quadrat“ rum und gingen den alten Leuten auf die Nerven. Die meisten fanden uns süß. Aber eben nicht alle. Irgendwann kam die Polizei zu uns nach Haus. Mama sagte: Mein Kind, wir müssen uns mal unterhalten.“ Der Polizist war sehr groß und sehr ernst.
„Anführerin der Bande war ein etwa 6 jähriges Mädchen mit roten Haaren“ (das Ehepaar, das uns angezeigt hatte, hat nicht mal gemerkt, dass das ne Perrücke war :-D) So stand es im Protokoll. Verhaftet haben sie mich aber gottseidank nicht. Ich glaube, ich laufe auch nicht unter „vorbestraft“.
Ok, keine Theaterstücke mehr. Keine Moorleichen. Aber ich hatte schon damals immer Plan B!


Dann gehen wir eben aufs Dach. Unsere Nachbarn wohnten in einem sehr großen Haus mit 4 oder 5 Stockwerken. Darüber noch der Dachboden. Wir sind auf den Dachboden, von dort aus die Leiter hoch bis  ganz unters Dach und dann durch das Dachlukenfenster raus. Das war richtig hoch. Meine Freundin hat immer die Perlen von ihrer Stofftasche abgefrickelt, ich wette, die liegen dort heute noch. Wir saßen oben an der frischen Luft und konnten uns freier kaum fühlen. Wir konnten den Passanten fast auf die Köpfe spucken oder sie erschrecken. Ob es gefährlich war? GEFÄHRLICH????? Das war nicht gefährlich, das war lebensmüde. Aber keiner von uns ist runtergefallen. Nur einer hat dann mal gepetzt. Er sagte, er holt uns Schokoldade, sperrte uns von innen aus und holte die Vermieterin. Die fand es nicht so cool wie wir. Es gab keine Schokolade. Nur ziemlich langen Hafer.


Ok,  auch nicht mehr aufs Dach. Aber wir hatten irgendwie auch so noch genügend verrückte Einfälle.


V
Und wir hatten eine Badeanstalt. Früher hieß das nicht Freibad, es hieß Badeanstalt. Wir hatten eine Batze mit einem 50m langen Becken und richtigem Wasser drin. Chlorwasser.  150 von 100 Eltern würden heute den Bademeister verklagen, so wenig, wie er sich um die Panzen gekümmert hat. Und die Stadtverwaltung für die hohe Chlorkonzentration im Wasser. Es gab erstaunlich wenige Katastrophenfälle für diese Morbidität. Und wir waren wenigstens sauber hinterher  Wir durften einmal im Jahr mit Klammotten schwimmen. Wer in der Parkstraße wohnte, konnte direkt im Badezeug mal eben über die Straße. Wer im Marienweg wohnte, konnte über die Hecke machen und sparte sogar noch 80,00 Pfennig. War für mich ok,  dass ich aus der Parkstraße kam, ich hatte noch Rücklagen aus meiner Schauspielkarriere.


Tja, und wenn wir nicht schwimmen waren und nicht bei „ums Quadrat“ die Castingshows abdrehten, dann hatten wir auch noch ein Zelt. Also, was heißt wir? Tina hatte das Zelt. Tina war sowieso der Boss. Sie war die älteste. Alle wollten immer so sein wie Tina. Aber Tina war eben auch der Chef vonnet Janze. Ganz klare Ansage. Dann kam Tina ins Krankengehäuse. Die Chefin kriegte die Mandeln raus. Die arme Tina. Wir haben alle unsere Ersparnisse zusammengekratzt und Sachen gekauft, für Tina. U.a. einen Sheriffstern. Bei CeHa Bock. CeHa Bock war der Kaufmannsladen in Bad Nenndorf, in dem es einfach alles gab. Ich kaufte mit 7 meine Barbiepuppen dort und mit 17 meinen ersten Blazer. Zwischendurch Geha- oder Pelikanfüller und Geodreiecke. Bei CeHa Bock gab es alles.
Und ich kaufte die Sachen für Tina. Als Tina aus dem Krankengehäsuse kam, stellte sie fest, dass jemand während ihrer Abwesenheit „Boss“ in ihr Notizbuch geschrieben hat. Oh oh. Das gab Ärger.
Alle waren sich sofort einig, dass ich es war. Weil ich ja die jüngste war. Und ich war auch immer so harmoniebedürftig und so versöhnlich. Es war irgendwie klar, dass ich nicht widersprechen werde.
Ich musste drei Tage lang vorm Zelt sitzen. Versteht ihr? Ich durfte einfach nicht rein. Ich durfte mir nur ein Handtuch nehmen und reinschauen. Die andern 5 Mädchen saßen drin und spielten. Ich guckte zu. Drei Tage lang.
Leute, das war echt bitter! Echt mal. Ich meine, ich war 6. Oder vllt. 7. Passiert das heute einer 7 jährigen, geht die Mutter sofort rüber und die anderen Bastarde werden wegen Mobbing zur Verantwortung gezogen. Brauchten wir nicht. Mama hat eh gearbeitet, vormittags, und nachmittags den Haushalt gemacht. Und sie wird gedacht haben,  „dann werden die schon ihre Gründe haben“


Ich bin auch daran seelisch nicht zugrunde gegangen. Wirklich nicht. Obwohl ich 20 Jahre später erfahren musste, dass meine beste freundin damals, meine allerbeste freundin, fast eeine Schwester,das Buch bekritzelt und es nicht gesagt hat –dennoch: ich habe das gemeistert. Auch die schweren Dinge in der Kindheit. Denn so ist das nun mal im Leben. Ganz normal. Mal sitzt mal im Zelt, mal davor.


Und heute? Der Schalter vor der Glotze ist eine mobile Multifunktionsfernbedienung und  bietet 120 Sender. Ich schaue weiterhin 5 Sender. Ostzone ist jetzt MDR. Ums Quadrat ist weg. Dort stehen jetzt große Wohnblocks. Ganz modern. Der Tierarzt ist noch da, aber ich bin sowohl aus dem Alter der Stofftiere als auch dem des Kiffens raus. (schade eigentlich ;-)) Auf dem Dach sind wir noch mal gewesen, als ich 16 und Tine 18 war. Wir sind beinahe im Lukenfenster steckengeblieben, als wir wieder reinwollten,weil wir einfach andere körperliche Dimensionen angenommen hatten,  da werden wir mal keine Experimente mehr wagen. Die abgefrickelten Perlen der orangefarbenden Tasche meiner Freundin waren noch da. Die Badeanstalt ist lange rasiert, auch der Bereich ist großflächig bebaut. Über CeHa Bock kam die Planierraupe, es wurde ebengeschoben. Es brach mir das Herz. Wie eine Moorleiche fühle ich mich jeden Morgen. Theater ist das ganze Leben doch irgendwie und  ich hab auch immer mal wieder das Gefühl, nur VOR dem Zelt zu sitzen…..
 
…. die Haare sind  auch wieder rot….und ich habe keine Gnaste …


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen