Samstag, 13. Juni 2015

"In Bad Nenndorf gibt es eine Kneipe" oder" von der miesesten Spielunke zwischen Bombay und Kalkutta"


Hier eine Zeitreise in die 90er
In Bad Nenndorf gibt es eine Kneipe. Das ist natürlich nichts besonderes, es gibt überall irgendwelche Kneipen, doch der Container in Bad Nenndorf ist schon so ein Kapitel für sich. Schließlich kommt es nicht von ungefähr, dass wir  ihn auch " die miesesete Spielunke zwischen Bombay und Kalkutta" nennen.

Wir gehen trotzdem dortahin. Oder gerade deswegen. Im Container trifft man eingentlich nur Schicksale, und wird vermutlich, wenn man einmal begonnen hat, dort hinzugehen, unweigerlich auch zu einem solchen.

Es macht irgendwie ein bisschen einen düsteren Eindruck, wenn man den Laden betritt, gleich wohl er so urig und saugemütlich ist. Es sind viel mehr diverse Gestalten, die einem schon beim Reingehen erschaudern lassen. Nicht alle. Aber so manche.

An  der Theke sitzt ein Riesenmenschenpulk, man braucht nicht lange, um festzustellen, dass sie alle bereits mehr als benebelt sind. Auch der Wirt, der den Zapfhahn bedient, ist für mein Empfinden nicht mehr nüchtern. Es stellt sich die Frage, warum man fast nichts versteht? Ist es, weil sie alle betrunken sind oder ist es, weil mindestens zwei Drittel der Gäste Engländer sind? Oder ist es, weil von den BETRUNKENEN zwei drittel BETRUNKENE ENGLÄNDER sind?

Aber das macht rein gar nichts, die Schicksale verstehen sich auch ohne viel Gerede, da wird dann notfalls einfach mal zugefasst, es gibt da ja durchaus Möglichkeiten, das wird dann entweder erwidert oder aber es gibt eine kleine Schlägerei, wer weiß das schon. Irgendwas wird schon passieren.

Ich sehe mich um:
Ganz hinten sitzt eine Menge Kids, die maximal 13 Jahre alt sind. Sie spielen Karten. Um Geld und Alkohol. Ob das so der richtige Einstieg in die Welt der Erwachsenen ist? Man weiß es nicht...
Früher oder später werden genau diese Kids in dieser Keipe vor der Tür rumkriechen und halbkomatös nach ihren Kontaktlinsen suchen....

Alle paar Minuten wird es  furchtbar laut, man versteht sein  eigenes Wort nicht mehr, weil die "Kanisterköppe" (so nannten wir die Engländer liebevoll) irgenwelche Top Ten Hits mitgröhlen, die gerade im Radio laufen. Ja, das ist auch so ein Markenzeichen des Containers: Die ganze Nacht läuft das Radio, vielleicht, damit die Gäste irgendwann morgens mitbekommen, dass ein neuer Tag begonnen hat und sie zur Arbeit müssen (wenn sie denn eine haben....)

Ein Schicksal sitzt auf dem Barhocker und plaudert mit sich selbst. Es ist Stesenbiel, der heißt bei uns so: Stesenbiel - Besenstil, weil er immer so dasitzt, als hätte er einen solchen verschluckt. Kerzengerade.  Das gibt es ja öfter, dass man der einzige ist, der sich versteht, im Leben. Hin und wieder versucht er dennoch, auch an den Gesprächen anderer teilzuhaben, aber die Konversation ist in seinem Zustand doch ein wenig erschwert. So ist es denn doch wesentlich einfacher, sich selbst etwas zu erählen...
Irgendwann ist er sich jedoch nicht mehr einig mit sich, es kommt zum Streit:  Stesenbiel fällt lautlos vom Hocker; keiner nimmt das auch nur annähernd zur Kenntnis, er verharrt eine Weile auf dem Fußboden und  noch während man sich fragt, ob er verletzt oder gar bewusstlos ist, räkelt er sich, steht auf, als sei nie etwas gewesen und bestellt den nächsten Halben.
WIR SIND JA NICHT ZUM SPASS HIER!
Die Wirtin empfiehlt dem Schicksal an, sich eine Taxe zu rufen. Irgendwann, nach noch ein paar Bieren, ist er verschwunden, ob nun mit dem Taxi Hach hause oder mit einer Schnapsflasche auf der Toilette oder bei einem anderen Schicksal, das weiß keiner so genau.

An der anderen Seite der Theke sitzen noch zwei Schicksale. Weibliche in dem Fall. Es sind generell viele weibliche Schicksale dort, was möglicher Weise darauf zurück zu führen ist, das besagter Gastwirt ein ziemlich gutaussehender und auch lustiger Typ mit südländischem Touch ist. Ein Olivenbaron, so stellt sich später heraus (will sagen, griechischer Abstammung).
Viele der weiblichen Schicksale haben ein Auge auf den Olivenbron, und sitzen da - ja, sit and wait - so würde Sidney Youngblood es beschreiben. "All we can do, is sit and wait..."
Genau so wie ich, denn auch ich finde den Olivenbaron ziemlich süß.
Gottseidank hat das außer mir nie einer gemerkt.



Zurück in die Zukunft: Die Engländer sind auch immer sehr charmant, zumindest zu den Frauen, und großzügig. Sie sind sehr großzügig. Sie geben einen nach dem anderen aus, sie haben alle Deckel, und auch der Olivenbaron ist großzügig, obwohl man die Dollerzeichen in seinen Augen funkeln sieht, aber er wartet immer geduldig, bis die lustigen Engländer einmal im Monat ihre Kollekte eingewickelt bekomen-und - ihm dann postwendend sämtliche Trinkschulden auf den Tisch des Hauses bar auskehren. Eine Win- Win-Situation...

Die Engländer sind freundlich und sie sind gute Tröster. Wenn mal wieder ein weibliches Schicksal verloren rumsteht und Gnaste hat, weil der Baron sie nicht zur Kenntnis nimmt, dann stehen immer schon zwei nette "English Man in Contain´ "  bereit, um zu trösten. So auch in diesem beobachteten Fall, wo die junge Frau, die rechts einen an sich hängen hat, die Hände unter ihrem Pullover vergraben,einen weiteren auf der anderen Seite, seine Lippen hängen an  ihrem Hals.

AU BACKE.

Ein Taxifahrer kommt rein und  will die beiden Typen abholen, die  angerufen hatten, volltrunken. (also die Typen, nicht der Taxifahrer) Ich frage mich nur , woher diese Burschen soviel Geld für Alkoholmissbrauch und Taxe haben, ich kenne die beiden eigentlich nur als Stammgäste im Sozialamt, wo ich arbeite.
Die beiden streiten sich mit dem Taxifahrer, der es offensichtlich sehr eilig hat, denn sie haben es ich anders überlegt: Sie möchten nun doch noch etwas bleiben, sie holen zwei Dosen Pilsbier aus ihrer Alditüte, stellen den Ghettoblaster ab und zünden sich 'ne Kippe an. Jetzt wird der Taxifahrer richtig sauer. Und der Olivenbaron erst! Es gibt Fratzengeballere. Die Taxiuhr tickert. Morgen werden die wieder bei mir im Amt stehen und Geld für Hundefutter brauchen, ja, nee, is klar.

Ich muss auf die Toilette.
Grund Gütiger, was ist das? Zwei Toiletten, aber auf keiner ist eine Klobrille. OK, dann geh ich eben auf DIE von beiden, die man immerhin abschließen kann, aus der ein sehr beschwingtes Pärchen austritt,  und verrichte - halb stehend -  mein Geschäft.

Als ich wieder hoch komme, steht dort mein "Lieblingsschicksal". Der Mann ist immer melancholisch, immer traurig; aktuell hatte er ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau, die ihn  aber nun verlassen hat. Hat er mir alles erzählt. Hier erzählt einem fast jeder alles, nur eine Frage des Pegels. Je länger du da bist, desto mehr Schicksalsgeschichten kennst du.  Dieses Schicksal  hält fest an seinem Weinglas. Eigentlich darf er gar keinen Alkohol trinken, aus gesundheitlichen Gründen, aber hin und wieder muss man sich mal narkotisieren, bei so einem Kummer. Natürich kann ich das verstehen. Was ich nicht so ganz verstehe, ist, dass er nach dem dritten Glas Wein seine große und einzige Liebe offenbar vergessen hat und es bei mir versucht.

Ich bin mittlerweile etwas desorientiert, es ist brechend voll, ich sehe meine Leute nicht, von einer Seite fasst einem irgendeiner ans Hinterteil, von der anderen säuselt einer einem unmoralische Angebote ins Ohr, ich fühle mich irgendwie grad etwas verloren.

Dann kommt eine alte Schulkollegin von mir. Eine ganz liebe, DIE AUCH? Auch ein Schicksal?
Nein, natürlich  sieht sie nicht wie eines aus, aber sie erzählt mir, dass sie nachmittags schon alle  da waren und ordentlich  Bacardi getrunken haben und dass man ihr um 15 Uhr schon einen Eimer Wasser über den Kopf schütten musste und sie deshalb jetzt so komisch aussieht. ICH finde eigentlich nur komisch, dass sie nichts weiter als einen Badeanzug anhat.

Eine andere Lady torkelt zu ihrem Auto. Alles guckt gespannt, ob sie JETZT in diesem Zustand noch selbst fährt. Und ich denke: Ey, Olivenbaron, wieso greifst du  nicht ein??Vermutlich hat er große Angst, dass sie erwaretet, dass er sie nach Hause fährt und dann auch gleich da bleibt. Bei der einen oder anderen hat das ja schon geklappt, aber bei dieser?  Ich glaub es nicht.

Jetzt kommt Chips. Das ist der einzige, dessen Namen ich nenne, weil er seit 20 Jahren nicht mehr hier lebt. Chips muss man aber kennen:  Chips hat Rosenmontag bei den Schicksalen einen Strip gemacht. Er stand dort auf dem Tresen und hat alles ausgezogen (gottseidank habe ICH das nicht gesehen. ) Aber Chips ist schwer in Ordnung. Und echt ein lustiger Vogel.
Er kommt auch aus England und arbeitet tagsüber als "Handlanger" auf dem Bau. Abends steht er dann als "Zulanger" bei den Schicksalen. Chips ist echt trinkfest, der kann eine Menge vertragen, sehr zur Freude unseres Olivenbarons, denn jeden Monatsanfang beginnt Chips  damit, wie seine Kollegen, die Altlasten im Container zu begleichen. Wenn er keinen "Soft Cookie mehr in the Head" hat, wie er selbst immer zu sagen pflegt. Immerhin: Chips bezahlt. Deshalb ist leider auch nie viel übrig,  von den 4000 DM , die er monatlich verdient.



Dann kommt Mr. Möchtegern-Womanizer. Er ist mal wieder auf Brautschau. Leider nimmt jender bei der Suche nur sehr geringfügig Rücksicht darauf, ob seine potenziellen Opfer in Beziehungen sind oder nicht. Das gibt regelmäßig Theater mit den Männern dieser Frauen  im Container. Stört aber Mr. Möchtegern-Womanizer nicht. Mich auch nicht, ich bin nicht sein Beuteschema.

Der Baron fragt mich zu fortgeschrittener Stunde, ob ich ihn nach Hause fahren könne. Er würde nicht mehr fahren wollen. Spricht ja  für ihn.
Ich dürfte dann auch seinen 560er Mercedes fahren. Hmh. Ich käme mir  dann sicher mal wieder vor, wie Bridget Jones, ich würde garantiert ein Schulterpolster in der Farbe Hornhaut-Umbra verlieren, mir würde mein Tagebuch aus der Tasche fallen, ein Tampon, das Zahnweiß oder irgend  so etwas...Aber ich könnte - ich könnte den Baron 5 Minuten lang mit dem Auto durch die Gegend fahren. Mit DIESEM Auto. Vielleicht könnten wir uns UNTERHALTEN?  Ach nee,vergisses, Cordula, lieber nicht. Unterhalten will  der sich jetzt eh nicht mehr. Und am Ende zersägst du das Auto oder du wirst  depressiv, weil er deine Schulterpolster gefunden hat auf der Taxifahrt  oder beides oder whatever. Ein Schicksal wirst du in jedem Fall sein danach. Also lassen wir das mal schön bleiben.
Irgendeine der Ladies wird ich mit Sicherheit anbieten. Da musst du dir wenig Sorgen machen.




OK, der smarte Grieche ist weg, nun kommt noch eine alte Bekannte von mir und ist in Spendierlaune und lädt alle ein. Macht sie eigenltich immer, wenn sie nicht allein sein mag. Ok, noch ein Sektchen für mich.

Dann kommt die Polizei. War wohl mal wieder zu laut. Stört hier weiter keinen, bei den Schicksalen liegt das an der Tageordnung. Bußgeld und ab. Wir haben es ja.

Als ich um halb zwei nach Hause komme, fühle ich mich bereits wie ein Schicksal. Und bei der Frage, was man denn am nächsten Tag tun könne, fällt mir folgender Satz ein: In Bad Nenndorf gibt es eine Kneipe.....

Nachtrag 2015: Das war 1995. Ich habe das vor exakt 20 Jahren genauso erlebt und niedergeschrieben. Es gibt Schicksale, jede Menge. Und es gibt DAS SCHICKSAL.
Die meisten der oben bechriebenen Gäste sind ganz normale anständige Leute, die arbeiten und im Leben stehen, so wie ich auch. Keine Schicksale.  Aber es war lustig, diese Geschichte wieder zu finden, über die Kneipe und den Typen, den ich damals auch "griechische Krankheit" nannte, wenn ich Gnaste hatte, weil er mich nicht beachtet hatte. Die griechische Krankheit ist ein genialer Kneipier. Ein gigantischer Koch. Pizzabäcker. Der beste. Ein lustiger, charmanter und intelligenter, warmherziger  Mann. Und er sieht immer noch verteufelt gut aus. Warum ich das so genau weiß? Vom Schicksal zum Schicksal: Der Olivenbaron ist jetzt "mein" Baron. Bei mir hat sich das "sit-and-wait"  gelohnt, obwohl ich ihn nie nach Hause gefahren habe.
In diesem Sinne: Jetzt brauchen wir nur noch die Kneipe wieder, und die "Schicksale"  von damals. Dann schreibe ich eine Fortsetzung - versprochen ;-)